Nachruf: Luzius Wildhaber, Professor und ehemaliger Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
26.07.2020 08:13
Wir sind tief betroffen vom Tod von Prof. Dr. Luzius Wildhaber. Er hat nicht nur eine herausragende Rolle in Lehre, Forschung und Praxis des Völkerrechts gespielt, unter anderem von 1998-2007 als erster vollamtlicher Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Er war auch von 1972-1990 Präsident unserer Vereinigung und ist bis 1998 Vorstandsmitglied geblieben. Der Verstorbene hat sich nicht nur für das internationale Recht im allgemeinen und in der Schweiz im besonderen sondern auch für die Schweizerische Vereinigung für internationales Recht immer stark eingesetzt. Er ist bis zum Tag seines Todes unser geschätztes Mitglied geblieben.
Das Lebenswerk des Verstorbenen als Wissenschaftler und Richter ist einzigartig. Begonnen hat er mit Rechtsstudien in Basel, Paris, Heidelberg, London und New Heaven (USA), welche mit einem Doktorat der Rechte in Basel, einem LL.M. und J.S.D. in Yale und einem Basler Anwaltspatent abgeschlossen wurden. Nach kurzer Zeit beim Völkerrechtsdienst des EDA wurde er schon im Jahre 1971 als Professor für Völker-, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg i. Ue. gewählt. 1977 folgte der Ruf nach Basel, wo er in den Jahren 1992-1994 auch das Amt des Rektors ausübte.
Als Richter war er insbesondere seit 1991 Mitglied des damaligen nebenamtlichen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und nahm aktiv an dessen Reform teil. Seit seiner Wahl zum ersten Präsidenten des neuen hauptamtlich tätigen Gerichtshofs war er für zehn Jahre der höchste Schweizer Verantwortungsträger in einer internationalen Organisation. Durch sein nie aufgegebenes «Hin- und Her-Wandern» zwischen der Profession als Wissenschaftler und als Richter hat er die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie auch dessen wachsendes Selbstverständnis als Europäisches Verfassungsgericht gegenüber den Vertragsstaaten und den anderen internationalen Gerichtshöfen massgeblich mitgeprägt. Jahrelang und über seine Mandatszeit hinaus wies er auch darauf hin, dass das weltweit wirksamste Menschenrechtsschutzsystem weiterer Reformen bedarf, wenn es nicht Opfer seines eigenen Erfolgs werden will. Mit verschieden Initiativen hat er auch zu solchen Reformen beigetragen, welche er jedoch bis zu seinem Tod als ungenügend ansah. Man könnte somit die Präsidialzeit des Verstorbenen als «Wildhaber-Years» des Ausbaus und der Konsolidierung des EGMR bezeichnen.
Hochgeschätzt war Luzius Wildhaber auch als akademischer Lehrer. Sein praxis-orientierter Ansatz war vielen seiner Schülerinnen und Schüler, die heute selbst lehren, ein Vorbild. Er hat es mit seiner offenen, studierendenfreundlichen und doch anspruchsvollen Art verstanden, die Studierenden für die Grundfragen des Völkerrechts, aber auch des Staats- und Verwaltungsrechts zu interessieren und ihnen ein kritisches juristisches Denken zu vermitteln. Anhand von aktuellen, der Völkerrechtspraxis entlehnten farbigen Beispielen vermochte er sie für dieses Gebiet zu begeistern. Seine Vorlesungen und das zusammen mit Jörg Paul Müller verfasste Lehrbuch «Praxis des Völkerrechts», die der im angelsächsischen Raum geläufigen didaktischen Methode der «Case Studies» folgten, haben Generationen von Studierenden davon überzeugt, dass die Darstellung des Völkerrechts vom konkreten Fall her der Eigenheit dieses Rechtsgebiets besonders gerecht wird.
Den Studierenden und Doktorierenden des Verstorbenen ist auch seine respektvolle Weise in lebhafter Erinnerung, wie er ohne dogmatische oder politische Voreingenommenheit auch auf kritische Fragen einging und das wirkliche Anliegen der Fragenden heraushörte und aufnahm. Sie werden auch seinen trockenen Humor nie vergessen.
Neben der Aufgabe als Professor hat sich Luzius Wildhaber immer auch dem Gemeinwesen als unbestechlicher Ratgeber und Gutachter zur Verfügung gestellt. Wo Rat und Tat des Verstorbenen national oder international gesucht waren, wirkte er, mit Leichtigkeit in verschiedenen Sprachen sprechend und denkend, als Mann der Nuancen, der sorgfältig abwägenden und geistreichen Argumentation, die schliesslich in eine intellektuell und ethisch überzeugende Beurteilung mündete. Offenheit, Unvoreingenommenheit und Weitblick, verbunden mit einem hohen Mass an gesundem Menschenverstand, kennzeichneten die Urteilsgabe des Verstorbenen.
Versucht man, das Schaffen von Luzius Wildhaber als Wissenschaftler und Richter in wenigen Worten zusammenzufassen (und dabei etwa seinen Einsatz für Umweltschutz, auch durch Völkerrecht vernachlässigt), so steht im Mittelpunkt wohl seine Leitidee, wonach die Festigung und Fortentwicklung der Menschenrechte und ihrer richterlichen Überprüfung und Durchsetzung eine unverzichtbare Grundlage für Gerechtigkeit, Frieden, Fortschritt und Sicherheit in Europa und in der Welt bilden. In zahlreichen Schriften, Voten und Vorträgen hat der Verstorbene auf den inneren Zusammenhang von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hingewiesen. Dass dabei Rechtswissenschaft und Rechtswirklichkeit näher zusammenrücken müssen, sind eine Erkenntnis und eine Forderung, die der Verstorbene wiederholt und in klaren Worten vertreten hat. Auch im Professor las und hörte man den Richter, und im Richter erkannte man den Professor.
Die SVIR, ihre Präsidentin und ihr Vorstand werden ihren ehemaligen Präsidenten Luzius Wildhaber in ehrendem Gedächtnis behalten, sich weiterhin für seine Ideen einsetzen und drücken den Hinterbliebenen, insbesondere seinen beiden Töchtern Anne und Isabelle, die beide Juristinnen wurden und in Lehre Forschung und Praxis tätig sind, ihr aufrichtig empfundenes Beileid aus.